2. Mai 2024

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In Hightech-Schuhen zur WM-Medaille: «Explosives Gemisch»

Höher, schneller, weiter - und auch riskanter? Hightech-Schuhe helfen bei Top-Zeiten, womöglich aber auf Kosten des Körpers. Doppel-Europameisterin Gina Lückenkemper gibt eine Prognose ab.

Sind sie Fluch und Segen zugleich? In Hightech-Schuhen kämpfen WM-Stars bei den Titelkämpfen der Leichtathleten in Budapest um Bestleistungen und Medaillen. Einige Branchengrößen müssen den Saisonhöhepunkt aber verletzt aus der Ferne verfolgen.

«Es ist schon ein bisschen extrem, wie viele Athleten auf Weltniveau gerade ausfallen», sagte Doppel-Europameisterin Gina Lückenkemper. «Diese ganze Entwicklung mit den Carbon-Schuhen ist mit Vorsicht zu genießen. Die sind aggressiver. Ich glaube, das wird uns in den kommenden Jahren noch beschäftigen.»

Belgiens Siebenkampf-Olympiasiegerin Nafissatou Thiam musste auf den Kampf um WM-Gold wegen Achillessehnenproblemen verzichten, Hürden-Weltrekordlerin Sydney McLaughlin-Levrone aus den USA fiel wegen Knieproblemen aus. «Wenn man sich mit den Athleten unterhält, ist es extrem, festzustellen, wie viele aktuell mit Achillessehnen- oder Fußproblemen zu tun haben», sagte Lückenkemper. Sie kommt mit den Super-Tretern «sehr gut zurecht». Den Weg in das von der Amerikanerin Sha’Carri Richardson gewonnene 100-Meter-Finale ebneten sie Deutschlands «Sportlerin des Jahres» jedoch nicht. 

«Carbon-Schuhe tun ihr eigenes»

Frank Busemann, Olympia-Silbermedaillengewinner von 1996, ist vom Fortschritt fasziniert. «Es ist der Hammer, was da für eine Entwicklung stattgefunden hat», sagte Busemann, der in Budapest als ARD-Experte die Wettkämpfe verfolgt. In den vergangenen Jahren habe nach der Corona-Pandemie eine enorme Leistungsentwicklung stattgefunden, dazu sei die Wettkampfdichte sehr hoch. «Dann kommt noch das Material hinzu, Carbon-Schuhe tun ihr eigenes», sagte der 48-Jährige. «Das ist ein explosives Gemisch für gute Leistungen – aber auch für Verletzungen.»

Die vor wenigen Jahren durch erfolgreiche mediale Vermarktung populär gewordenen Carbon-Schuhe «lassen die, die sie tragen, im Durchschnitt zwei bis vier Prozent schneller laufen als die Sportler, die normale Schuhe tragen», sagte Olaf Ueberschär, Professor für Mensch-Technik-Interaktion und Biomechanik der «Berliner Zeitung». «Man sieht jetzt auch die negative Seite und schaut, ob die Probleme in der Gesamtbilanz vielleicht tatsächlicher gravierender sind als der Vorteil durch den Carbon-Schuh.»

Laufrekorde durch Schuhwerk

Der genaue Zusammenhang ist bei der Individualität der Athleten schwer zu beweisen. Es gibt viele Einflussfaktoren, die in dieser Form neu sind: die lange Pandemie zwischenzeitlich ohne Wettkämpfe, aber mit Training; im Anschluss eine nie dagewesene Dichte von Saisonhöhepunkten. Dazu haben Sportler wie etwa die nach Muskelfaserriss fehlende Olympiasiegerin Malaika Mihambo oder die wegen Fußproblemen pausierende Europameisterin Konstanze Klosterhalfen auch schon Olympia in Paris in knapp zwölf Monaten im Visier.

Einfluss hat das Material auf alle Fälle. Einige Laufrekorde werden auch dem Schuhwerk zugeschrieben. «Zum einen sind die Sohlen dicker und höher geworden, insbesondere bei den Schuhen, die auf den Langstrecken getragen werden», sagte Gert-Peter Brüggemann, langjähriger Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie an der Deutschen Sporthochschule in Köln. 

Carbon-Platten in Schuhen

«Das liegt an den neuen, weichen und extrem responsiblen Schäumen der Mittelsohlen. Aktuell werden häufig sogenannte Nitro-Schäume verwendet», erklärte der Wissenschaftler bei «zdf.de». Letztlich werde die Muskulatur des Läufers entlastet, «die Muskelarbeit bei gleicher Laufgeschwindigkeit reduziert. Die Laufökonomie wird höher.» Einen Effekt belegen auch einige Zahlen, wie zum Beispiel diese: 2017 liefen vier Männer im Marathon Zeiten unter 2:05 Stunden. Zwei Jahre später gab es 17 derartige Zeiten.

Zudem wurden Carbon-Platten in die Schuhmodelle eingebaut. «Die primäre Idee war, die Sohle insbesondere im Vorfußbereich zu versteifen und damit den Energieverlust im Zehengrundgelenk zu reduzieren. Es hat sich aber gezeigt, dass das bei den Schuhen für die langen Strecken wenig Effekt hat und der dominante Vorteil aus den neuen, dicken Schäumen resultiert», beschrieb es Brüggemann.

Kein Weg zurück

«Anders sieht das bei den Spikes für die Sprintdisziplinen aus: Da hat die steife, gebogene Carbon-Platte in der Mittelsohle dazu geführt, dass mehr Kraft über die Achillessehne zum Antrieb verwendet werden kann. Dadurch werden aber auch die Belastungen für die Athleten von Fuß und Achillessehne höher.»

Auch wenn das Verhältnis zwischen Athletengesundheit und Leistungsmaximierung im Spitzensport wenig schonend für den Körper ausfällt, ist ein Weg zurück von dieser Technologie nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Eine langfristige Vorbereitung im Training der Athleten auf die modifizierten Belastungen kann aber helfen. 

Der in den USA lebende Sam Parsons, der für den Deutschen Leichtathletik-Verband über 5000 Meter startet, sieht Anpassungen wie eine stärkere Fußmuskulatur als notwendig an. Für den Sport aber sei diese «Hypertechnologie» fantastisch, sagte er der «Berliner Zeitung». «Ich denke, dass das erst der Anfang ist von dem, was noch passieren wird.»

Von Christian Kunz und Robert Semmler, dpa