3. Oktober 2024

Sport Express

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Ausnahmelage: Lukakus Abend der großen Botschaften

Erst weint er, dann trifft er: Romelu Lukaku hat großen emotionalen Schmerz wieder einmal in große sportliche Leistung umgewandelt.

Auf den Liebesgruß ins TV-Weltbild ließ  Belgiens Matchwinner Romelu Lukaku eine emotionale Rede folgen. Sein Club-Kollege Christian Eriksen, der am Samstag bei der EM kollabiert war, ist für den Torjäger viel mehr als nur ein Teamgefährte.

«Wir spielen zusammen, wir verbringen viel Zeit zusammen. Ich verbringe mehr Zeit mit ihm als mit meiner eigenen Familie», sagte Lukaku, der beim souveränen 3:0 (2:0) gegen Russland doppelt traf und schon nach seinem ersten Tor die Kamera suchte, um dort aus der Ferne Grüße an Eriksen zu richten: «Chris, Chris, (…), I love you.»

«Teamkollegen haben mir geholfen»

Sofort herbeigerufene Helfer hatten in Kopenhagen lebensrettende Maßnahmen eingeleitet. Der 29 Jahre alte Eriksen wurde ins Krankenhaus gebracht, wo sich sein Zustand nach Angaben des dänischen Verbandes stabilisierte. Die große Ungewissheit, bevor es in Dänemark weiter- und im russischen St. Petersburg planmäßig losging, bewegte auch Lukaku. «Meine Teamkollegen haben mir geholfen, diese Situation zu meistern. Ich bin meinen Teamkollegen sehr dankbar. Meine Gedanken sind nur bei Christian, das ist sicher», sagte der Belgier. Der Sieg, der Doppelpack: Diesmal alles nur Beiwerk.

«Ihn so zusammenbrechen zu sehen, war richtig, richtig hart für mich», sagte Lukaku. «Ich habe vor dem Spiel viele Tränen für Christian Eriksen vergossen. Es war schwer für mich, mich zu konzentrieren», schilderte der Stürmer. Die beiden Profis von Inter Mailand legten sich in der abgelaufenen Spielzeit nicht nur so viele Tore auf, dass der Traditionsclub die erste Meisterschaft seit 2010 holte – sie kennen und mögen sich auch privat, wie Lukaku immer wieder hervorhob.

Tiefe Trauer und Tränen

Auch Chefcoach Roberto Martínez schilderte, welchen Einfluss die schockierende Szene auf die unmittelbare Spielvorbereitung und das angeknockte Gemüt seiner Spieler nahm. «Es herrschte tiefe Trauer. Wir haben es live gesehen – wir wollten fünf Minuten später unser Teammeeting beginnen. Das Letzte, worüber wir reden wollten, war Fußball. Es war ein Schock, es gab Tränen», beschrieb der Spanier. Neben Lukaku sind auch die Verteidiger Jan Vertonghen und Toby  Alderweireld mit Eriksen vertraut, weil sie jahrelang gemeinsam bei Tottenham Hotspur spielten.

Die Austragung der Partie wurde offenbar nicht groß hinterfragt, wie Martínez andeutete. «Ich bin nur der Trainer von Belgien. Wir müssen immer auf die Anweisungen warten», kommentierte er dazu. Da nach der ersten Entwarnung bei Eriksen in St. Petersburg die übliche Zeremonie tobte, nutzten Lukaku und Co. die Bühne eben für Botschaften. Der  Stürmer grüßte nicht nur emotional Kumpel Eriksen, sondern kniete mit seinen Red-Devils-Mitspielern vor dem Anpfiff auch, um ein  geschlossenes Zeichen gegen Rassismus zu senden.

Pfiffe und Buhrufe

Lukaku hat damit selbst Erfahrung. Er musste 2019 bei einem Elfmeter für Inter deutlich hörbar Affenlaute ertragen und hat seither immer wieder vehement seine Stimme gegen Rassismus erhoben. «Wir befinden uns im Jahre 2019, aber anstatt Fortschritte zu machen, gehen wir rückwärts», prangerte Lukaku nach den schweren Vorfällen in der Serie A damals an. Am Samstag gab es zwar keinerlei Verfehlungen in diese Richtung, die knienden Belgier wurden von den 26.242 überwiegend aus Russland stammenden Zuschauern dafür mit Pfiffen und lauten Buhrufen bedacht. Russlands Trainer Stanislaw Tschertschessow wollte die Aktion nicht kommentieren und forderte stattdessen Fußballfragen.

Lukakus Horizont aber reicht deutlich über Ball, Rasen und Tor hinaus. Zur WM 2018 – als Belgiens Tormaschine schon ein Weltstar war – verfasste er in «The Players Tribune» einen emotionalen Beitrag, in dem er seine Kindheit beschrieb, die von Armut, Existenzangst und in der Wohnung umherlaufenden Ratten geprägt war. «Ich erinnere mich, dass ich 2002 Löcher in meinen Schuhen hatte. Große Löcher. Zwölf Jahre später spielte ich plötzlich bei der WM.» Aus aktuellem Anlass hat das Online-Portal den Beitrag in der Nacht zum Sonntag noch einmal geteilt.

Von Patrick Reichardt, dpa