17. April 2024

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«Mehr Potenzial und Chancen»: Leichtathleten stagnieren

Die zählbaren Olympia-Erfolge der deutschen Leichtathleten halten sich in Grenzen. Sie holen zwar wie in Rio 2016 drei Medaillen, erleben aber viele Enttäuschungen - bis hin zur Bruchlandung von Speerwurf-Goldfavorit Johannes Vetter.

Für den Deutschen Leichtathletik-Verband sind die Olympischen Spiele in Tokio mit vielen Enttäuschungen, Stagnation und wenigen Lichtblicken zu Ende gegangen.

«Die Medaillenzahl ist im Vergleich mit Rio 2016 gleich, aber wir haben mehr Potenzial und Chancen gehabt, die wir nicht genutzt haben», bilanzierte DLV-Cheftrainerin Annett Stein und ergänzte: «Da müssen wir wie im Fußball analysieren: Warum wurden die Chancen nicht verwertet?»

88 Starter holen drei Medaillen

Wie vor fünf Jahren unter dem Zuckerhut erkämpften die 88 Starter dreimal Edelmetall, doch diesmal nicht zwei aus Gold, sondern nur eine und zwei aus Silber. Dabei ragte der Weitsprung-Triumph von Malaika Mihambo heraus, völlig überraschend waren die zweiten Plätze von Diskuswerferin Kristin Pudenz und Geher Jonathan Hilbert.

Die Zahl der Medaillenkandidaten «Made in Germany» lag um einiges höher, was die Ausbeute relativiert. An der Spitze standen Speerwerfer Johannes Vetter und Christin Hussong, die als Nummer eins und zwei der Welt nach Tokio kamen und jeweils als Neunte abreisten. «Natürlich sind das Enttäuschungen», räumte Stein zu. Im Falle von Vetter erwies sich der zu weiche Boden beim Anlauf als Stolperstein. «Wir wussten nicht, dass der Belag für Olympia von der Firma modifiziert wurde», sagte die Chefbundestrainerin. Dabei war schon lange bekannt, dass er eine Hightech-Revolution von besonderer Beschaffenheit ist.

Mehr ausgerechnet im Mehrkampf

Mehr ausgerechnet hatte sich der DLV im Mehrkampf. Weltmeister Niklas Kaul schied verletzt nach dem Hochsprung aus. «Er hat super begonnen und man konnte ahnen, in welche Regionen es hätte gehen können», so Stein. Auch Siebenkämpferin Carolin Schäfer wollte mehr als Siebte werden, hatte nach Corona-Impfreationen aber nicht die Kraft dafür.

Über 3000 Meter Hindernis ersehnte Europameisterin Gesa Krause eine Medaille, wurde aber Fünfte. «Der schnelle Kilometer in der Mitte entsprach nicht ihrem Rennverlauf», analysierte Stein. Für die WM-Dritte Konstanze Klosterhalfen reichte es nach langer Verletzung über 10 000 Meter nur zu Rang acht. Gar nicht erst in die Medaillenrunden gelangten Ex-Weltmeisterin Christina Schwanitz (Kugelstoßen), Europameister Mateusz Przybylko (Hochsprung) und Ex-Europameister Max Heß (Dreisprung). Diskuswerfer Daniel Jasinski, Bronze-Gewinner in Rio, wurde nur Zehnter.

Wenige Lichtblicke

Jenseits der Leichtathletik-Prominenz gab es zudem wenige Lichtblicke in der zweiten und dritten DLV-Reihe. Es wurden sehr wenige persönliche Saisonbestleistungen wie die von Carolina Krafzik als Halbfinalistin über 400 Meter Hürden oder der Kugelstoß-Achten Sara Gambetta aufgestellt. Auch beherzte Auftritte wie von Sprinterin Alexandra Burghardt, die kurz auf das 100-Meter-Finale hoffen durfte, oder von Robert Harken im 1500-Meter-Halbfinale, waren Mangelware.

Für viele galt offensichtlich: Dabeisein ist alles. So sagte 200-Meter-Läufer Steven Müller nach seinem frühen Aus: «Fakt ist erstmal: Ich habe mir meinen Traum erfüllt, ich bin hier bei den Olympischen Spielen. Ich durfte den Lauf laufen.» Von den 50 DLV-Einzelstartern aus dem 88-köpfigen Team, die über mehrere Runde oder durch eine Qualifikation gehen mussten, scheiterten 25.

Für die ganz großen oder auch bedenklichen Momente sorgten Leichtathleten anderer Länder. Der Norwegen Karsten Warholm mit seinem surrealen Weltrekord über 400 Meter Hürden in 45,94 Sekunden, der erste Lauf unter der 46er-Grenze. Elaine Thompson-Herah (USA) mit 10,61 Sekunden und damit der zweitschnellsten jemals von einer Frau gerannten Zeit. Verblüffung riefen die Italiener hervor. Lamont Marcell Jacobs wurde der Usain-Bolt-Nachfolger über 100 Meter – in Europarekord-Zeit von 9,80 Sekunden. Mit seiner Staffel flitzte er auch zu Gold, das die Azzurri insgesamt fünfmal holten.

«Natürlich muss man sehen, was man von den Italienern lernen kann, und wo man ein Fragezeichen setzt», meinte Stein angesichts der Corona-Schlupflöcher im Doping-Kontrollsystem. «Sehr auffällig sind die Sprinter. Wir sind da schon sehr beeindruckt.»

Für den DLV gibt es auch ohne die Lehren aus dem Italien-Boom viel zu tun, um in Paris 2024 erfolgreich zu sein. Cheftrainerin Stein formulierte den Auftrag, der sich aus den Tokio-Spielen ergibt, im Funktionärsdeutsch so: «Wir wollen die notwendigen Schritte einleiten, um den Olympia-Zyklus 2024 sowohl in der Struktur als auch in der Hergangsgestaltung und Kalenderplanung zu setzen.»

Von Andreas Schirmer, Ulrike John und Eric Dobias, dpa