28. März 2024

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Löws neuer Wembley-Plan – Kein Speedboat für Havertz

Die Vorfreude steigt, die Spannung auch. Deutschlands Toptorschütze Havertz zeigt schon mal, wie cool man in Wembley sein muss. Joachim Löw muss aber ausgerechnet um zwei England-Experten bangen.

Lässig radelte Kai Havertz zum Training. Weder die fränkische Hitze noch der immer schneller tickende Countdown auf die Wembley-Show in seiner Londoner Wahlheimat konnten den deutschen EM-Toptorschützen beunruhigen.

«Ein England-Schreck bin ich noch nicht, das kann man noch nicht sagen, hoffentlich am Dienstag», sagte der 22-Jährige. Auch Team-Veteran Thomas Müller (31) kickte nach seiner erfreulichen Knie-Entwarnung entspannt im Kreise der Kollegen. Joachim Löw aber stand in Turnschuhen unter der sengenden Sonne im Adi-Dassler-Stadion und wirkte ein wenig in Gedanken versunken.

Fragezeichen hinter Rüdiger und Gündogan

Alles unter Kontrolle. Nur keine übertriebene Hektik. Und wie Havertz betonte, ohnehin keine Angst vor einem möglichen Elfmeterschießen. «Das Ziel bleibt das Finale», sagte der linke Außenturbo Robin Gosens am Sonntag mutig. Das waren die coolen und forschen Signale aus dem Teamcamp der Fußball-Nationalmannschaft vor dem Abflug zum Achtelfinal-Kracher bei der Europameisterschaft am Dienstag (18.00 Uhr/ARD und Magenta TV) beim ewigen Rivalen England.

Bundestrainer Löw war aber nicht frei von Sorgen. Ausgerechnet zwei seiner England-Experten mussten beim vorletzten Training passen. Chelsea-Verteidiger Antonio Rüdiger fehlte mit einer Erkältung. Noch unangenehmer dürfte der Brummschädel sein, der Ilkay Gündogan von Manchester City nach einer Schädelprellung aus dem Ungarn-Spiel vom Üben abhielt und ihn womöglich vorerst um den 50. Länderspieleinsatz bringt. Löw muss vor dem Kräftemessen mit den Three Lions, das seine Bundestrainer-Ära auf keinen Fall kurz vor seinem 200. Länderspiel beenden soll, also wieder warten und möglicherweise improvisieren.

Gündogans Kopfweh könnte für Löw aber auch Entscheidungshilfe sein. Joshua Kimmich doch wieder in die Zentrale neben Toni Kroos? Leon Goretzka dafür erstmals rein bei diesem Turnier in die Startelf? Das wären logische Lösungen. Zumal der sichtbar beschwerdefreie Müller in der Offensivreihe wieder den Platz des glücklosen Leroy Sané einnehmen kann. Sollte Rüdiger nicht fit werden, stünde Niklas Süle als erste Option bereit. Schnell und kopfballstark könnten ohnehin sinnvolle Attribute gegen England sein. Gosens warnte jedenfalls schon vor dem «großen Speed» von Bukayo Saka und Raheem Sterling.

Kein Abschlusstraining in Wembley

Löw war not amused über die neuesten Nachrichten aus London. Für den eng getakteten 30-Stunden-Trip auf die Insel muss er nämlich manche Wunschvorstellungen über den Haufen werfen. Das hat nicht nur mit den rigiden Corona-Regularien im Delta-Variantengebiet zu tun, die den Fans aus Deutschland die Einreise zum Spiel unmöglich machen und den in Bergamo die Covid-Schrecken durchlebten Gosens beunruhigen.

Der heilige Rasen in Wembley ist nach vier von acht Spielen unter UEFA-Schutz gestellt worden. Also fällt das von Löw erhoffte Abschlusstraining im Fußball-Heiligtum am Montagabend aus. Stattdessen bittet der 61-Jährige noch am Vormittag wieder in Herzogenaurach zum letzten Feinschliff. Erst nachmittags startet der DFB-Charterflieger von Nürnberg Richtung England.

In englische «Turnierwunde» stechen

Überhaupt ist beim ersten EM-Auswärtsspiel für Kapitän Manuel Neuer und seine Kollegen in der Team-Blase alles anders, als bei den letzten London-Reisen mit Löw. 2017 düsten die DFB-Stars in einem Speedboat über die Themse und schauten aus dem Riesenrad London Eye bis hinauf in den Nordwesten der Metropole zum imposanten Wembley-Bogen über der Arena. Eine U-Bahn-Fahrt in der Tube quer durch die Stadt wie 2013? Diesmal unvorstellbar.

Dennoch ist schon angerichtet für den Klassiker. Und verbales Trommeln gehört zum Standardprogramm. «Wir wollen natürlich immer wieder in diese englische Turnierwunde reinstechen. Wir wollen sie unsicher machen», sagte Müller bei Magenta TV. Deutschland gegen England, das war schon immer auch ein Psycho-Duell, angefeuert von der gnadenlosen britischen Regenbogenpresse.

«Stick Das Boot in, lads!», titele der «Sunday Mirror» mit einem englisch-deutschen Wortspiel, das zum sprichwörtlichen Foulspiel aufrief und an den Film-Klassiker erinnerte. «Teile der britischen Medien sind einfach entsetzlich und fremdenfeindlich. Dies sind schändliche Schlagzeilen, die bei den ignorantesten Briten Gefühle schüren, von denen die meisten auch für den Brexit gestimmt haben. Sie denken, es ist wieder 1941», sagte der kritische englische Medienexperte Mike Collett.

Bierhoff und Köpke mit guten Erinnerungen

Stahlhelm-Assoziationen gehören zum Repertoire einer seit dem einzigen WM-Sieg 1966 von sportlichen Niederlagen geprägten Fußball-Historie. 1970, 1972, 1982, 1990, 1996, 2010: Sechsmal scheiterten seither die Three Lions mit ihrer Titel-Sehnsucht an Deutschland – oft genug wie bei den Halbfinal-Dramen bei der WM 1990 und der EM 1996 im Elfmeterschießen auf schmerzhafte Weise. Für den letzten England-K.o. beim 4:1 im WM-Achtelfinale von Bloemfontein vor elf Jahren in Südafrika, der sich am Sonntag jährte, war Müller mit zwei Toren mitverantwortlich.

Allgegenwärtig sind die leicht verstaubten Reminiszenzen an den letzten EM-Erfolg 1996 mit dem goldenen Torschützen Bierhoff und Torwarttrainer Andreas Köpke als Zeitzeugen im «Home Ground». Auch wenn sich die junge Generation um Havertz (1999) natürlich nicht daran erinnern kann. Für Müller (1989), der den Triumph von Wembley als kleiner Bub als erstes großes Fußball-Erlebnis aufsog, ist die Mannschaft der Trumpf auf dem angestrebten Weg zum vierten EM-Titel. «Wir haben viele gute Spieler, viele Teamspieler, die es verstehen, im Verbund einen wichtigen Beitrag zu leisten. Das ist eine Stärke der Fußballnation Deutschland», betonte der 105-malige DFB-Spieler.

Die Unterstützung der Fans wird erzwungenermaßen mäßig sein. Mit nur 2000 deutschen Anhängern wird gerechnet. Rein dürfen nur Deutsche, die in Großbritannien leben – so die Corona-Verordnung. «Klar wäre es schön, wenn der eine oder andere im Stadion sein könnte. Aber die Atmosphäre ist trotzdem ganz cool, wenn du gegen Fans spielst, die nur gegen dich sind», sagte Havertz.

Von Arne Richter, Klaus Bergmann und Jens Mende, dpa