29. März 2024

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«Lebenslehre» des Schiedsrichters: Aytekins Kampf um Respekt

Deniz Aytekin ist einer der angesehensten Referees im deutschen Profifußball. Doch das war nicht immer so. In einem Buch erzählt er die Geschichte seines Aufstiegs und appelliert an die Gesellschaft.

Wann genau, das weiß er nicht mehr. Aber irgendwann begann Deniz Aytekin damit, die Gelben und Roten Karten, die er so verteilt, mit einem verständnisvollen Lächeln zu garnieren.

Seit gut 13 Jahren pfeift der gebürtige Nürnberger in der Fußball-Bundesliga, seit zehn ist er FIFA-Schiedsrichter. Der 43-Jährige gilt als einer der besten und bei den Spielern beliebtesten Referees Deutschlands. Doch der Weg an die Spitze war steinig. «Für mich war und ist er eine Art Lebenslehre», sagte Aytekin der Deutschen Presse-Agentur. «Ich habe viele andere Menschen und vor allem mich selbst kennengelernt.»

«Es braucht ein respektvolleres Miteinander»

In den acht Monaten, die er infolge einer im August 2020 erlittenen Achillessehnenverletzung pausieren musste, habe er viel Zeit zum Nachdenken gehabt, so Aytekin. Worüber, das beschreibt er in dem Buch «Respekt ist alles. Was auf und neben dem Platz zählt», das nun erschienen ist. Es ist eine Biografie, aber auch eine Botschaft. Denn Aytekin hat «das Gefühl, dass der Schritt zur Respektlosigkeit angesichts unserer Schnelllebigkeit heutzutage noch leichter geworden ist. Darunter leiden nicht nur Schiedsrichter, sondern auch Politiker, Lehrer und Menschen aus allen anderen Teilen unserer Gesellschaft. Es braucht wieder ein respektvolleres Miteinander.»

Aytekins gesammelte Erfahrungen reichen von der Kreisklasse bis ins DFB-Pokalfinale – und weit über den Fußballplatz hinaus. Die ersten Jahre wuchs der Sohn türkischer Einwanderer im fränkischen Zirndorf auf. Das Einkommen der Eltern war überschaubar, die Wohnung für die vierköpfige Familie auf lange Sicht zu klein. Als Sechsjähriger wurde Aytekin von seinem Vater in die Türkei gebracht. Nach vier Jahren bei den Großeltern kehrte er zurück nach Deutschland und musste sich wieder neu integrieren. Die Zeit in der Heimat der Eltern und die strengen Schulregeln dort hätten ihn Respekt gelehrt, so Aytekin. Und nichts wünscht er sich seither auch sich selbst gegenüber mehr.

Herausforderung mediale Aufmerksamkeit

Doch längst kriegen die Unparteiischen falsche Pfiffe nicht mehr nur von Trainern, Spielern oder zigtausenden Zuschauern im Stadion um die Ohren gehauen, sondern auch von der – oft anonymen – Öffentlichkeit. «Die größte Herausforderung des Schiedsrichters ist inzwischen die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit. Jede Entscheidung wird auf zig Kanälen verbreitet und bewertet – und das verbal oft unter der Gürtellinie», sagte Aytekin. «Ich bewundere viele junge Kollegen, wie selbstbewusst sie damit umgehen. Ich bin nicht sicher, ob ich, der in den ersten Profi-Jahren doch noch sehr unsicher war, im Alter von damals heute noch mal so zurechtkommen würde.»

In seiner Anfangszeit ging der 1,97-Meter-Mann auf dem Platz resolut und mit grimmiger Miene zu Werke. Erst später baute er das Lächeln und mehr Kommunikation in die Spielleitung mit ein. Kritik wie die von Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke im September, Aytekin sei beim Spiel in Mönchengladbach «wie ein Kapellmeister» aufgetreten, gibt es nur noch selten. Aytekin will nahbar sein. Auch abseits des Rasens. In der Regel macht er einen Bogen um soziale Medien, weil «viele Menschen offenbar glauben, diese Kanäle seien ein rechtsfreier Raum. Die Nachrichten, die man da so geschickt bekommt, sind teilweise bodenlos.» Fragt ihn ein Fan dort höflich nach einer seiner Entscheidungen, antwortet er aber auch.

Bei der Frage, ob er sich heute noch mal dafür entscheiden würde, Schiedsrichter zu werden, überlegte Aytekin kurz. «Von meiner Leidenschaft für den Fußball her und den schönen Momenten, die ich erleben durfte, würde ich diesen Weg wieder wählen», sagte er dann entschlossen. Mit Blick auf seine gescheiterte Ehe, die vielen Wochenenden auf Reisen und die Übergriffe auf Schiedsrichter in den unteren Klassen, deren Opfer er selbst mal wurde, sagte er aber auch: «Ob ich das meinen Kindern und meiner damaligen Frau noch mal antun würde, weiß ich aber nicht. Ich würde jedem empfehlen, Schiedsrichter zu werden, ihn oder sie mit meiner heutigen Erfahrung aber für die Herausforderungen dieses Jobs sensibilisieren.» Wie mit seinem Buch.

Von Christoph Lother, dpa