20. April 2024

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Englands EM-Freude in der Pandemie: Kater nach der Party?

England ist im Fußball-Rausch: Die Leistungen der Nationalmannschaft bei der EM reißen ein ganze Land mit. Brexit und Corona wirken weit weg. Kann die Elf von Gareth Southgate die gesellschaftlichen Gräben kitten?

Die wichtigste Frage musste Boris Johnson noch vor dem Endspiel klären: Müssen die Engländer am Montag ins Büro, wenn die Nationalmannschaft am Sonntag das Finale der Fußball-Europameisterschaft gewinnt?

Der britische Premierminister, selten um eine Antwort verlegen, wich aus. «Das hieße, das Schicksal herauszufordern. Schauen wir mal, was passiert», wiegelte Johnson ab. Kurz vor dem Duell mit Italien im heimischen Wembley-Stadion ist die Euphorie im Land gewaltig: Dass Nationaltrainer Gareth Southgate demnächst von Queen Elizabeth II. zum Ritter geschlagen wird, bezweifeln mittlerweile die wenigsten.

Vom Kniefall ins Finale

Schon immer wurde der Fußball dafür genutzt, Wunden zu heilen und Gräben zu überwinden. Für England wäre das Gold wert. Es gibt viele Wunden zu heilen in dem Land, das doch eigentlich nur ein Landesteil ist. Und noch vor wenigen Wochen sah es kaum danach aus, dass die Nationalmannschaft diese Aufgabe übernehmen könnte. Noch bevor der erste Anstoß ausgeführt war, diskutierte das Land vielmehr, ob das Team als Zeichen gegen Rassismus vor Spielbeginn knien sollte.

«Das teilt die Fans und demoralisiert die Spieler», schimpfte der rechtskonservative Blogger Paul Joseph Watson. «England wird früh aus der Euro 2021 rausfliegen.» Die Spieler kümmerten sich nicht um solche Meinungen und knieten – doch vor dem ersten Spiel gegen Kroatien waren die Pfiffe dagegen nicht zu überhören. Das Thema erreichte höchste politische Kreise, sowohl Premier Johnson als auch seine Innenministerin Priti Patel nahmen die pfeifenden Fans in Schutz. Jeder habe das Recht auf Meinungsfreiheit.

Johnson & Co. als Edelfans

Nun geben sich Johnson und die konservative Hardlinerin Patel als größte Fans der Mannschaft, die von Medien aller Couleur als Symbol für ein modernes, diverses und begeisterungsfähiges England gelobt wird. Liberale reiben sich die Augen: «Sie setzen sich für hungrige Kinder ein, sie kämpfen gegen Online-Hass (…) – und sie gewinnen Fußballspiele», staunte der Autor John Sutherland. Das soziale Engagement von Spielern wie Stürmer Marcus Rashford ist immens.

Im Zentrum: Gareth Southgate. Der Buchmacher Coral bietet Wetten an, dass der Trainer einmal Premier wird, so sehr haben die Engländer ihn ins Herz geschlossen. Ex-Nationalspieler Gary Neville urteilte, Southgate sei ein wahrer Anführer: «respektvoll, bescheiden, ehrlich, echt». Und machte dann deutlich, dass der sportliche Erfolg nicht alles übertüncht. «Das Niveau der Führungselite in diesem Land war in den vergangenen Jahren schlecht», sagte der für seine klaren Aussagen bekannte Ex-Profi – im Visier: Boris Johnson.

Corona-Zahlen explodieren

Wenigstens über die Corona-Pandemie und die erneut explodierende Zahl der Neuinfektionen deckt Johnson mit Hilfe der EM einen Mantel. Vor dem Stadion und in den Innenstädten spielten sich während der englischen Partien Szenen ab, die wie aus einer anderen Zeit wirkten: Zu Tausenden sangen, tanzen und tranken da die Fans eng an eng. Beim Public Viewing auf dem Trafalgar Square, benannt nach einer blutigen Seeschlacht, lagen sich die Menschen nach dem Sieg über Dänemark freudetrunken in den Armen. Brexit und Corona waren sehr weit weg.

Kritik daran ist kaum vorhanden. Die Menschen sollten die Nacht genießen, gaben die Kommentatoren vom TV-Sender ITV ihren Zuschauern mit auf den Weg. Das Land habe in den vergangenen 16 Monaten so viel durchgemacht, diese Szenen seien nun der Lohn fürs Durchhalten. Die Zeitung «The Times» jubelte: «Es war eine Wiederherstellung der menschlichen Verbindung.» Die Haltung erinnert an den britischen «Exceptionalism» – das Gefühl, dass Großbritannien, diese stolze Handels- und Seefahrernation, auserwählt ist, eine zentrale Rolle zu spielen. Parteiübergreifend gibt es an der Position wenig Zweifel.

Spruch der Stunde: «It’s Coming Home»

«It’s Coming Home» – er kommt nach Hause: Die Zeile aus dem Fan-Klassiker «Three Lions» ist der Spruch der Stunde in dem Land, das sich als Erfinder des Fußballs feiert. Eben noch schimpften die Pendler in der Londoner Tube über die geplante Super League. Jetzt summen sie angesichts des ersten internationalen Fußball-Finales für England seit 55 Jahren beschwingt die inoffizielle EM-Hymne «Sweet Caroline». Gespannt warten Beobachter darauf, was passiert, wenn die rauschende Party endet. Brexit-Folgen, schottische Unabhängigkeit, Messergewalt unter Jugendlichen, gleiche Lebensbedingungen in Städten und auf dem Land – nur einige Fragen, die auf Antworten warten.

Schließlich ist die Befürchtung groß, dass die Pandemie erneut zuschlägt. Am 19. Juli sollen alle Corona-Regeln gelockert werden, das normale Leben zurückkehren. Trotz der gut laufenden Impfkampagne warnen Experten, der Schritt komme viel zu früh. Sie fürchten, dass Zehntausende lang andauernde Corona-Folgen erleiden. Der Kater nach der wochenlangen Feier könnte groß sein.

Von Benedikt von Imhoff, dpa